Vereinte Nationen: “Große Finanzkluft” inmitten der Corona-Krise bedeutet schweren Rückschlag für nachhaltige Entwicklung

Weltweit steigende Lebensmittel- und Energiepreise aufgrund des Ukraine-Konflikts schüren Sorgen über eine Verschlechterung der Weltwirtschaft und ein steigendes Risiko von Schuldenkrisen.

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NEW YORK, 12 April 2022 – Eine rasche wirtschaftliche Erholung von der Corona-Pandemie scheitert in vielen Entwicklungsländern an den hohen Kosten der Schuldenfinanzierung. Hohe Zinskosten haben Kürzungen in Ausgaben fuer Bildung und oeffentliche Investitionen erzwungen, so ein neuer Bericht, der heute von den Vereinten Nationen veröffentlicht wurde.

Der 2022 Financing for Sustainable Development Report: Bridging the Finance stellt fest, dass reiche Länder durch Kredite mit extrem niedrigen Zinsen Rekordsummen für die Pandemie-Erholung mobilisieren konnten, während die ärmsten Länder Milliarden für den Schuldendienst aufwenden mussten, zulasten von Investitionen in nachhaltige Entwicklung.

In 2021 fielen weitere 77 Millionen Menschen aufgrund des Corona-Schocks in extreme Armut, und viele Volkswirtschaften blieben bis Ende des Jahres unter dem Niveau von vor 2019. Der Bericht schätzt, dass das Pro-Kopf-Einkommen in einem von fünf Entwicklungsländern bis Ende 2023 nicht auf das Niveau von 2019 zurückkehren wird – noch ohne die Auswirkungen des Ukraine-Krieges zu berücksichtigen.

„Nahe der Halbzeitmarke für die Finanzierung der nachhaltigen Entwicklungsziele (Sustainable Development Goals, SDGs) sind diese Ergebnisse alarmierend“, sagte die stellvertretende UN-Generalsekretärin Amina Mohammed. „Es gibt keine Entschuldigung für Untätigkeit in diesem Moment der kollektiven Verantwortung, Hunderte Millionen Menschen aus Hunger und Armut zu befreien. Wir müssen in den Zugang zu menschenwürdigen und grünen Jobs, sozialer Sicherheit, Gesundheitsversorgung und Bildung investieren und niemanden zurücklassen.“

Bridging the Finance Divide zufolge wenden die ärmsten Entwicklungsländer im Durchschnitt 14 Prozent ihrer Staatseinnahmen für Zinszahlungen auf, fast viermal so viel wie entwickelte Länder mit 3,5 Prozent. Aufgrund der Pandemie mussten viele Entwicklungsländer weltweit ihre Budgets für Bildung, Infrastruktur und andere Investitionen kürzen. Der Ukrainekrieg verschärft diese Herausforderungen und schafft neue, durch höhere Energie- und Rohstoffpreise, erneute Unterbrechungen von Lieferketten, höhere Inflation bei geringerem Wachstum und erhöhte Volatilität an den Finanzmärkten.

In vielen Entwicklungsländern könnte der Krieg zu einer weiteren Zunahme von Hunger und von Schuldenproblemen führen. Bereits vor dem Krieg hatte sich die Schere der wirtschaftlichen Erholung weiter geöffnet, mit ausreichenden Corona-Impfstoffen fuer 24 von 100 Einwohnern in Entwicklungsländern, verglichen mit fast 150 pro 100 Einwohnern in den Industrieländern. Ganze 70 Prozent der 10-Jährigen in Entwicklungsländern waren 2021 nicht in der Lage, einen einfachen Text zu lesen, 17 Prozent mehr als in 2019. Lebensmittelpreise erreichten bereits in 2021 ein neues Zehnjahreshoch, und die Vereinten Nationen fürchten eine dramatische Verschlechterung der wirtschaftlichen Aussichten vieler Länder durch den Ukraine-Konflikt.

Das Tempo der wirtschaftlichen Erholung in den Industrieländern zeigt jedoch einen möglichen Ausweg durch größere Investitionen.

„In den letzten zwei Jahren hat die entwickelte Welt bewiesen, dass die richtigen Investitionen – in widerstandsfähige und saubere Infrastruktur, soziale Sicherheit oder öffentliche Dienstleistungen – Millionen von Menschen aus der Armut befreien können “, sagte Liu Zhenmin, Untergeneralsekretär der Hauptabteilung für wirtschaftliche und soziale Angelegenheiten der Vereinten Nationen, die den Bericht verfasst hat. „Die internationale Gemeinschaft muss auf diesen Fortschritten aufbauen und sicherstellen, dass Entwicklungsländer auf ähnlichem Niveau investieren können, während sie gleichzeitig Ungleichheiten verringern und eine nachhaltige Energiewende vorantreiben.“

Der Bericht sieht globale Fortschritte in 2021 in den Bereichen Armutsbekämpfung, soziale Sicherheit und Investitionen in nachhaltige Entwicklung – als Folge von Maßnahmen in Industrieländern und einigen großen Entwicklungsländern, einschließlich 17 Billionen US-Dollar Coronahilfen. Positive Entwicklungen beinhalten:

  • Stärkere Förderung von Forschung und Entwicklung, grüner Energie und digitaler Technologien, zum Beispiel durch den Wiederaufbauplan der Europäischen Union „Next Generation EU“ und dem „Infrastructure Investment and Jobs Act“ in den USA.
  • Erholung der privaten Investitionen in 2021 – wovon mehr als 50 Prozent auf China und die USA zurückgehen.
  • Verdoppelung nachhaltiger Investitionen auf über 1 Billion US-Dollar und 62 Prozent Wachstum von Fonds mit Nachhaltigkeitsthemen gebenüber 2020.
  • Rekordsumme von 230 Milliarden US-Dollar an Private Equity- und Risikokapitalinvestitionen in Entwicklungsländern (verglichen mit 150 Milliarden US-Dollar in 2020).

Der Bericht stellt auch ein Rekordwachstum der öffentlichen Entwicklungshilfe (ODA) fest, die 2020 mit 161,2 Milliarden US-Dollar den höchsten Stand aller Zeiten erreichte. Allerdings reduzierten 13 Länder ihre Entwicklungshilfeausgaben, und die Gesamtsumme ist nach wie vor zu gering, um den enormen Bedarf der Entwicklungsländer zu decken. Die Vereinten Nationen befürchten, dass die Ukrainekrise und dadurch erhöhte Kosten für die Aufnahme von Geflüchteten in Europa zu weiteren Kürzungen von Hilfen für die ärmsten Länder führen könnten. Dabei erfordert die globale Krise schnelles Handeln und zusätzliche internationale Unterstützung, um Schuldenkrisen zu verhindern und hohe Zinslasten zu verringern.

Die große Mehrheit der Entwicklungsländer ist dingend auf aktive Unterstützung angewiesen, um auf den Weg zu einer nachhaltigen Entwicklung zurückzukehren. Der Bericht schätzt, dass es in den ärmsten Ländern einer 20-prozentigen Ausgabenerhöhung für Schlüsselsektoren bedarf.

Bridging the Finance Divide empfiehlt Maßnahmen in drei Bereichen:

  1. Finanzierungslücken schließen und Schuldenrisiken senken. Zum Beispiel: Schuldenerleichterungen beschleunigen, auch fuer hochverschuldete Länder mittleren Einkommens; Schuldenumwandlungen vereinbaren; ungenutzte Sonderziehungsrechte in Höhe von 100 Milliarden US-Dollar an bedürftige Länder umverteilen. Ein gestärktes System öffentlicher Entwicklungsbanken mit Expertise und finanzieller Unterstützung für nationale Institutionen kann Ländern helfen, langfristige, erschwingliche und stabile Finanzierung zu sichern.
  2. Alle Finanzierungsflüsse an nachhaltigen Entwicklungszielen ausrichten. Zum Beispiel: Anpassung des internationalen Steuersystems an die sich verändernde Weltwirtschaft, zur Ermöglichung einer fairen Steuerpolitik; handels- und investitionspolitische Maßnahmen zur Überwindung der Ungleichverteilung von Impfstoffen und medizinischen Produkten; weltweit einheitliche Standards für die Nachhaltigkeitsberichterstattung von privaten und börsennotierten Unternehmen. Gegenwärtige hohe Preise für fossile Brennstoffe bieten Ländern eine erneute Gelegenheit, Investitionen in eine nachhaltige Energiewende zu beschleunigen.
  3. Mehr Transparenz und ein vollständigeres Informationsökosystem für die Befähigung von Ländern zu besserem Risikomanagement und sinnvoller Resourcenverwendung. Zum Beispiel: Bekämpfung illegaler Finanzströme durch besserem Austausch und Nutzung von Steuerinformationen; Verbesserung der Transparenz von Schuldendaten; Entwicklung langfristiger Kreditratings für Staaten.

 

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Anmerkungen für den Editor:

  • Der Bericht ist ein gemeinsames Produkt der Inter-agency Task Force on Financing for Development, welche aus über 60 UN Organisationen und internationalen Organisationen besteht. Das Financing for Sustainable Development Office der UN Hauptabteilung für wirtschaftliche und soziale Angelegenheiten ist substantieller Herausgeber und Koordinator der Arbeitsgruppe, in enger Zusammenarbeit mit der Weltbankgruppe, dem IWF, WTO, UNCTAD und UNDP. Die Arbeitsgruppe wurde durch die Addis Ababa Action Agenda mandatiert; Mr. Liu Zhenmin, Untergeneralsekretär für wirtschafliche und soziale Angelegenheiten, ist ihr Vorsitzender. Der vollständige Bericht und die Anhänge werden unter folgendem Link zur Verfügung stehen: https://developmentfinance.un.org/fsdr2022
  • Der Bericht bildet die Basis für Diskussionen im ECOSOC Forum on Financing for Development follow up, in dem sich Mitgliedstaaten auf notwendige Maßnahmen zur Mobilisierung von nachhaltiger Finanzierung einigen. Der Bericht dient ebenso als Information für die SDG Investment Fair, welche Regierungsvertreter und Investoren zusammenbringt.
  • Der Bericht umfasst u.a. die Bereiche Weltkonjunktur; Handel; Schulden; Privatwirtschaft und -finanzierung; Technologie; sowie internationale Entwicklungszusammenarbeit

 

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Für weitere Informationen oder für Interviews mit unseren Experten können Sie folgende Ansprechpartner kontaktieren:

Rita Ann Wallace, UN DESA | Mob: +1 516 707 5570 | rita.wallace@un.org

Oliver Schwank, UN DESA | schwank@un.org

Sharon Birch, UN Department of Global Communications | birchs@un.org

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